Alleine in Gesellschaft

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Es ist der erste Tag seit über fünf Wochen, den ich alleine verbringe. Thomas hat es doch übler als gedacht erwischt, daher nimmt er einen Bus nach Muş, wo wir uns dann wieder treffen wollen. Ich fahre ganz normal mit dem Rad weiter.

Anfangs ist mir etwas mulmig zumute, doch im Laufe des Tages zeigt sich, dass es auch positive Effekte gibt, wenn man alleine unterwegs ist. Ich bin viel bewusster unterwegs als sonst und erlebe Landschaft und Menschen viel intensiver.
Es gibt an diesem Tag so viele Begegnungen wie sonst an einer Woche. Ein Ziegenhirte erzählt mir von dem Wachstum seiner Herde und wieviel Ertrag Milch und Wolle bringen. Einen Schluck frische Ziegenmilch muss ich auch kosten. Ein Fahrer eines Transporters mit Ladefläche rettet mich vor einem Gewitter indem er mich ein paar Kilometer mitnimmt. Ein alter Landstreicher gesellt sich zu mir als ich am Wegesrand eine Zwischenmahlzeit einlege und kramt sein altes deutsches Fernglas heraus mit dem er aus Leidenschaft Tiere beobachtet.

Am interessantesten sind allerdings die fünf kurdischen Bauarbeiter am Straßenrand, die mich einladen die Massen an Tomaten, Gurken und Ziegenkäse, liebevoll angrichtet auf einem riesigen Silbertablett, zu verköstigen. Auf meine Nachfrage versichtert man, dass sich Kurden und Türken bestens verstehen würden und auch die türkische Regierung sich sehr für kurdische Interessen einsetze. Was bei uns aus den Medien zu erfahren sei, wäre alles nicht der Wahrheit entsprechend. In Wirklichkeit sei der türkisch-kurdische Konflikt schon längst überwunden.

Von dieser netten Begegnung beflügelt pedaliere ich ohne die Anstrengung zu bemerken einen langen Anstieg hinauf. Völlig unerwartet tut sich am Gipfel eine gigantisch-schöne Landschaft mit großartigem Weitblick auf. Als das Fahrrad ohne mein Zutun aufgrund des Gefälles anfängt zu beschleunigen, merke ich, wie Freudentränen und Schweiß sich zu einem Rinnsaal an meiner Wange zusammenfinden. Die Symbiose dieser beiden Flüssigkeiten ist das Spiegelbild des Radreisealltags. Der Kraftakt und die Anstrengung sind der zu zahlende Preis, um die Schönheit der Welt in aller Reinheit erleben zu können. Es sind diese Momente des Glücks, die für alle Strapazen entschädigen.

Am Abend finde ich ein Hotel in einer kleinen Stadt und nach dem Abendessen suche ich ein Internetcafe auf. Neugierige Menschen drängen sich um mich und mit Hilfe von Google Translate beantworten wir gegenseitig unsere Fragen.
Als ich nur noch alleine da bin, wird mir unfragt ein Obstteller mit Kiwis, Äpfeln, Bananen und Erdbeeren serviert. Als ich gehen will, wird mir nicht gestattet für Internet, Essen oder Trinken zu bezahlen und man begleitet mich eskortierend im Dunkeln zum Hotel.

Neugierige Gesichter blicken in die Webcam

All diese Erfahrungen und Eindrücke sind so intensiv, dass mir die entgegengebrachte Freundlichkeit und Offenheit nahezu peinlich ist, da ich oft keinen Weg weiß, um mich erkenntlich genug zu zeigen. Sehr gerne möchte ich versuchen es Besuchern in unserem Land einmal ebenso angenehm zu machen. Gastfreundschaft anzunehmen, aber sie auch zu geben, sind die wichtigsten und schönsten Dinge, die ich auf dieser Reise bisher gelernt habe.


Ein Kommentar zu diesem Artikel

  1. Lieber Valentin,
    wir haben uns total ueber Deine Karte aus Griechenland gefreut, die auch noch rechtzeitig vor unserer Abreise aus den USA angekommen ist. Wir verfolgen regelmaessig Deinen Radelblog und sind ganz hingerissen von der Gastfreundschaft, die Euch bislang entgegengebracht wurde.
    Wirklich bemerkenswert!

    Heute Abend haben wir mit Heidi und Karl in Steinheim Deine juengsten Abenteuer angeschaut. Wir druecken die Daumen, dass Ihr gut und heil weiterkommt, wenn Ihr Anatolien (d.h. den “Westen”) nun endgueltig hinter Euch lasst!
    Herzliche Gruesse und keep spinning
    Kerstin und Michael

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