Vom Atlantik nach Marrakesch

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Das Verlassen von Casablanca, Marokkos einwohnermäßig größter Stadt, gestaltet sich wenig entspannt. Die Bergauffahrt wird ständig begleitet von dicht überholenden Autos, Lastwagen mit seitlichem Auspuff, die uns verrußte Luft bescheren und einem unglaublichen Hupkonzert. Die Hupe ist die Allzweckwaffe und wird benutzt, um zu grüßen, um zu warnen, um ein Überholmanöver zu signalisieren, Passanten auf ein leeres Taxi aufmerksam zu machen. Also eigentlich immer. Die Folge ist, dass man in einer Großstadt Tag und Nacht von einem ohrenbetäubenden Lärm umgeben ist. Um dem Tumult zu entkommen, nehmen wir einen längeren Umweg in Kauf und fahren auf kleinen Trampelpfaden in Richtung der Hochebene von Marrakesch.

Wilder Feigenkaktus mit Früchten

Die Landschaft verändert sich sichtlich. Der Himmel ist strahlend blau und nur mit hoher Anstrengung lassen sich vereinzelte Wolken erkennen. Die Sonne brennt so stark herunter, dass unsere Körper komplett mit Schweiß überströmt sind. Links und rechts neben der gut ausgebauten Straße erstreckt sich braune Erde, bis nach einigen Kilometern aus ihr Berge erwachsen. Vegetation ist, abgesehen von der angelegten Allee entlang der Straße, kaum vorhanden. Ab und an gibt es Ansammlungen von Kakteen, die einzigen Pflanzen, die hier ohne künstliche Bewässerung überleben.
Es fängt an zu dämmern. An einer Raststätte haben wir in weiser Voraussicht geduscht und unsere Wasservorräte aufgefüllt. So weit das Auge reicht, lässt sich nichts erkennen, wohinter man, vor Blicken geschützt, unser Zelt hätte aufbauen können. Das selbe Bild zeigt sich auch nach weiteren zehn Kilometern. Eine Idee muss her. Wir entdecken ein paar kleine Feigenkakteen und eine Steinbaracke in deren Nähe, die unbewohnt aussieht. Über einen holprigen Weg kommen wir der Anlage näher und werden mit Hundegebell begrüßt. Tatsächlich, hier wohnen einige Menschen. Gestikulierend fragend wird unser Gesuch verstanden und ja, wir können hier unser Zelt aufbauen. Nach einem anstrengenden Tag beginnen wir die abendliche Routine, stellen das Zelt auf, kochen uns Abendessen auf dem Gaskocher und lassen den Tag Revue passieren.
Gerade als wir, den Nudeltopf zwischen uns stehend, die Kohlenhydratspeicher beginnen aufzufüllen, bekommen wir Besuch von den Menschen des Hauses. Ich frage mich wie viele noch heranströmen werden, denn die Anzahl übersteigt den westlichen Personen-pro-Wohnquadratmeter-Standard schon jetzt um einen zweistelligen Faktor. Man bringt uns Tee und wir stellen uns gegeneinander die üblichen, ohne Sprache möglichen, Fragen. Sie wollen uns überzeugen mit ins Haus zu kommen und dort im Gästebett zu übernachten. Nur nach einiger Anstrengung können wir sie überzeugen, dass wir uns in unseren Schlafsäcken ganz wohl fühlen. In unserem „Point it“-Heftchen, in dem zahlreiche Dinge des täglichen Lebens fotografiert abgedruckt sind, und mit dem man die Sprachbarriere oft überwinden kann, zeigen sie auf die verschiedenen Tiere und schauen Sarah fragend an. Hühnchen? Äh, nein. Ziege? Nein. Schwein? Nein. Hase? Nein.
Wir wundern uns und fragen uns, was gemeint ist. Ob wir diese Tiere gerne streicheln? Ob wir sie gerne essen? Ob die Familien sie uns zum Abendessen schlachten sollen? Wir hoffen inständig, dass letzteres nicht der Fall sein wird und gehen bald ins Bett. Tatsächlich bekommen wir, als es schon lange dunkel ist, Besuch von einem Jungen mit Taschenlampe. Sarah fürchtet schon, dass jetzt ein halbes Huhn für uns gebracht wird, aber es sind zum Glück nur ein paar Früchte.
Am nächsten Morgen haben wir dann auch endlich verstanden, warum versucht wurde uns vom Schlafen im Freien abzuhalten. Durch die Feigenkakteen sind überall auf dem Boden ganz feine Stacheln verstreut, die sich mühelos durch den Zeltboden bohren und sich überall festsetzen. Das passt auch ganz gut zu meiner vorherigen Erfahrung mit Kaktusfeigen. Nachdem ich, einer Anleitung aus dem Internet folgend, eine Feige gepflückt, sie mit dem Messer halbiert und ausgelöffelt habe, merke ich, wie sich überall im Mund diese feinen Stacheln befinden. Sarah verbringt die nächste halbe Stunde am Straßenrand damit meine herausgestreckte Zunge zu untersuchen und die Stacheln herauszupulen. Ein unterhaltsames Schauspiel für die Dorfjugend. Das Fazit für uns: Kaktusfeigen, nein danke.

Wir packen wie gewohnt unsere Sachen zusammen, bedanken uns für die Gastfreundschaft und beginnen unseren letzten Radfahrtag dieser Reise.

Nichtsahnend fahren wir immer weiter nach Süden und sehen irgendwann die Stadtmauern von Marrakesch. Verdächtig wenig ist hier los, denken wir. Und dann passiert es. Hinter der nächsten Straßenecke begrüßt uns das gewohnt laute Hupkonzert. LKW, Taxen, Motorroller und Pferdewagen teilen sich die Straße. Es geht weder vor und zurück. Abgas und eine enorme Lautstärke begleiten das ganze Spektakel. Ein alter Mann im Rollstuhl versucht vergeblich einen vierspurigen Kreisel zu überqueren. Wir wurden von der einsamen, vegetationsarmen Hochebene ausgespuckt; in eine Metropole mit all ihrer Lebendigkeit. Offensichtlich sind wir am Ziel unserer Reise, der ekstatischen, quirligen Stadt aus 1000 und einer Nacht angekommen. Das hier etwas anders ist als in anderen marokkanischen Städten erkennt man schon jetzt.

Ankunft in Marrakesch

Es wird zu einer Herausforderung das lange Tandem durch den Verkehr zu lotsen. Durch enge Gassen schlängelt sich der Weg, Autos passen hier gar nicht mehr hindurch. Rollerfahrer überholen uns routiniert, obwohl der Weg zwischen senkrechten Häuserfassaden hindurch, kaum breiter ist als einen Meter. Schließlich kommen wir in einem Riad an, einem traditionellen marokkanischen Gebäude, das rund um einen Innenhof gebaut wird, zu dem sich auch alle Zimmer hin öffnen. Dieser “nach innen”-Stil ist auch die einzige Möglichkeit Fenster zu verbauen, da die Häuser alle dicht an dicht aneinander gestellt sind.

Marokkanisches Riad

Im botanischen Garten Jardin Majorelle

Zufällig haben wir die "Hühnerstraße" entdeckt. Hier reihen sich Läden mit Hühnern aneinander. Alle Tiere sind in Käfigen oder auf dem Boden eingepfercht. Möchte man ein Huhn kaufen, wird es auf die Waage gelegt, die andere Seite mit den entsprechenden Gewichten zum Ausgleich bestückt und schon ist das Abendessen gesichert. Die Rupfmaschine, die im Prinzip aus einem schnell durchlaufenden Schmiergelpapier besteht, ist wahrscheinlich eher nicht für die öffentliche Besichtigung vorgesehen.

Djemaa El-Fna

In Marrakesch dreht sich alles um die Djemaa El-Fna, das Herz der Altstadt. Auf dem Platz selbst befinden sich Kuriositäten aller Art. Angekettete Affen, die Passanten auf den Rücken springen, Schlangenbeschwörer, die mit einer Trompete ihre Schützlinge zum Bewegen bringen wollen, Geschichtenerzähler, Wahrsager, Henna-Bemaler und vieles mehr. Der Trubel ist etwas befremdlich für uns und es ist das erste Mal seit vielen Tagen, wo wir weniger Einheimische als Touristen sehen. Viele der letzteren tragen ihre Rucksäcke auf dem Bauch, aus Angst Opfer von Taschendieben zu werden, die sich im Gemenge verstecken. Blickt man genauer hin, sieht man sehr deutlich, wie hier gearbeitet wird. Sogar ein Marokkaner, der ohne zu bezahlen ein Foto von einem Schlangenbeschwörer macht, wird direkt von einem anderen Mann in die Mangel genommen und nicht gehen gelassen, bevor er einen Obolus dalässt.
Auf dem Platz selber gibt es ganztägig frischen Orangensaft bei hübsch geschmückten Wägen mit alten, großen Holzrädern. Am Nachmittag beginnt eine Horde Männer damit Tische, Bänke und mobile Küchen aufzubauen. Abends kann man hier zahlreiche marokkanische Leckereien verkosten. Im Dunkeln verändert sich dann auch die Art des Angebotes. Nun werden marokkanische Lampen auf dem Boden angeboten. Die Kerzen schaffen eine wohlige Atmosphäre und mit den rhythmischen Trommelklängen, der schrillen Trompete, dem Gewusel und den arabischen Marktschreiern fühlt man sich wirklich im Orient angekommen.

Bei diesem Spiel muss man versuchen Getränkeflaschen zu angeln, indem man den runden Gummireifen am Ende der Angel versucht um den Flaschenverschluss zu legen.

Um Geschichtenerzähler bilden sich innerhalb von Minuten große Kreise von Zuhörern, die gespannt den arabischen Anekdoten lauschen.

Wahrsager

Muschelsuppe und Orangensaftstände im Hintergrund

Dieser Tisch gehört zu einem Zahnarzt. Seine kompletten Arbeitsutensilien präsentiert er ebenso stolz, wie alle Zähne, die er in seiner bisherigen Karriere gezogen hat. Die Menge an Zähnen ist der Beweis für die Qualität seiner Arbeit.

Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille.
Rund um den Platz befinden sich Markt und Cafés. Möchte man auf eine der Dachterrassen, muss der gemeine Tourist erst durch eine Drehschleuse mit Kaufzwang zu Wucherpreisen. Allgemein beschleicht mich der Eindruck, dass die zweifelsohne einzigartig orientalische Stadt ziemlich vom Tourismus infiltriert wird und dadurch ein Stück Individualität verloren geht. Die Abzockmasche wird auf dem Markt intensiv praktiziert. Ein Foto ohne Geld zu geben? Schwierig. Über den Platz gehen ohne zum Kauf von Holzkamelen, Plastikschlangen, Hennabemalung überredet zu werden? Keine Chance. Dazwischen reiht sich die gelegentliche Frage „Haschisch, Haschisch?“ ein. Das Gefühl etwas Natürliches, Authentisches zu entdecken, wie wir es im bisherigen Verlauf unser Marokko-Reise kennengelernt haben, ist hier nicht mehr vorhanden. Über der wunderschön verwinkelten Altstadt mit hellbraunen Riads, tollen Gerüchen, Hammams und immer neuen Entdeckungen hängt ein Schleier von touristischer Anpassung. Die Frage, ob das wirklich schlecht ist oder ob der Fakt, dass die Marrakeschis vom Geld der Westler profitieren höhere Priorität besitzt, ist in meinem Kopf bisher noch unbeantwortet. Was bleibt, ist letztendlich die Erinnerung an eine Reise in ein Land (gast-)freundlicher Menschen; Marrakesch als unser Ziel die Krönung der Erwartungen. Der Weg bis hier war die stetige Steigerung von Eindrücken, bis sie Marrakesch mit ihrer Lebendigkeit zum Höhepunkt brachte.


Ein Kommentar zu diesem Artikel

  1. Hi,

    ich muss schon neidvoll zugeben, mit dem Tandem in Marrakesch ist natürlich noch ‘nen Ticken interessanter als mit dem Minibagger in der Radmer.

    Gute Weiter- bzw. Heimreise!
    Bernd

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