Nach zweieinhalb Wochen Türkei starten wir also durch in ein uns noch unbekanntes Gebiet: Georgien und Aserbaidschan. Die alltäglichen Dinge, an die man sich so gewöhnt, müssen wieder neu erlernt werden. Denn in der Türkei wissen wir nun wie der Hase läuft: Bei welchen Banken kann man Lira und Dollar abheben? Welche Speisen gibt es? Wie sind die Preise? Wo gibt es Müsli zu kaufen? Wie ist der Straßenbelag? Welche Gepflogenheiten und Fettnäpfchen gibt es? Wie teuer ist ein Doppelzimmer im Hotel? Ist das Wasser aus den Brunnen am Straßenrand gut?
Georgien begrüßt uns mit einem stetigen Gefälle und Rückenwind bei tollem Wetter. Wir folgen dem Fluss Mtkvari bis zur Hauptstadt Tiflis und sehen dabei beeindruckende Landschaften. In der Metropole, deren Einfahrt sich über viele Kilometer mit verfallenen Wohn-Hochhäusern entlang des Flusses hinzieht, verbringen wir einen schönen Nachmittag und Abend. In unserem Hostel treffen wir einen anderen Fernradler, ein Ire, der im Januar losgeradelt ist und noch bis Peking fahren möchte. Das Stadtzentrum selbst wirkt ein wenig inszeniert und erinnert an eine europäische Kleinstadt. Wir essen die georgische Spezialität “Chinkali” am Straßenrand und beobachten das bunte Treiben.
Unser Weg durch Georgien ist relativ kurz und so sind wir schon kurz darauf in Aserbaidschan. Auch wieder ein Land, über das man im Normalfall gar nicht so viel weiß. Immerhin ist vielen der Name seit dem Eurovision Song Contest ein Begriff. Auch wir sind relativ unbedarft, wissen aber zumindest, dass man hier die paar Türkischbrocken durchaus noch verwenden kann. Felix hat hier einen Bekannten, den er bei seinem Studienaufenthalt in Norwegen kennengelernt hat. In der größeren Stadt Ganja kommen wir in seiner Wohnung unter, die vier Zimmer hat und doch von ziemlich vielen Leuten bewohnt wird. Da ist das Wohnzimmer, das riesig ist, aber der meiste Platz ist doch ungenutzt. Ein Sofa, ein Tisch und ein Fernseher sind das einzige Mobiliar. Dann gibt es ein Zimmer, in dem die Vermieterin wohnt. Zusätzlich aber noch ihr Sohn oder noch wer. Genau ist das nicht ersichtlich. Und schließlich Ilqars Zimmer, das er mit zwei anderen Freunden teilt. Neben den drei Betten passt nur noch ein Schreibtisch hinein. Selbst für einen Kleiderschrank ist kein Platz. Und dann ist da noch ein freies Zimmer, das wir netterweise komplett benutzen können. Man lebt hier wirklich auf engem Raum und Privatsphäre ist kaum vorhanden. Einerseits ist das schön, weil man sich nie alleine fühlen muss und Gedanken, Probleme und Erwartungen mit anderen diskutieren und teilen kann. Und die Leute fühlen sich gut mit der Situation. Andererseits ist die Aufgabe des persönlichen Intimitätsbedarfes gerade aus westlichen Augen völlig krass zu bewerten: Wer kann sich schon vorstellen in Deutschland in einer Wohnung mit seinem Vermieter zu wohnen?
Die angesprochene Vermieterin ließ übrigens verlauten, dass sie während ihres Aufenthaltes in Moskau mal „Neger“ kennenlernte. Die waren sehr nett. Und sie erinnern sie sehr an mich. Abgesehen von der Hautfarbe. Ich weiß bis heute nicht, ob das ein Kompliment sein soll.
In Aserbaidschan wird viel gehupt. Mehr noch als in der Türkei. Gefühlt – aber auch in einer Frühstückspause nachgezählt – sind über die Hälfte aller Autos auf der Straße Ladas in allen erdenklichen Farben. Und einige davon haben auch extra laute Hupen oder welche mit Martinshorn oder Lacucaracha-Melodie. An unserem ersten Tag geht uns das auf der schmalen Straße ziemlich auf die Nerven. Eng überholende Autos, die genau im Augenblick neben einem aggressiv hupen. Und das passiert im Minutentakt. Man könnte meinen die Hupe, die ja nur die Zustände „ein“ und „aus“ kennt, könne keine Emotionen übermitteln, aber das sehe ich anders: Je nach Lautstärke, Melodie, Rhythmus und Intervall drückt sie Freude, Aufregung, Fassungslosigkeit, Genervtheit, Ärger über das Blockieren der Straße oder einen völlig extatischen Höhenflug aus. In den seltensten Fällen wird die Hupe, wie in unserer StVO vorgeschrieben, ausschließlich als Warnsignal eingesetzt.
Ich weiß noch immer nicht was genau in den Leuten vorgeht, die uns Tag für Tag auf und abseits der Straße sehen. Freude ist fast immer da, einige zeigen auch einen nach oben gereckten Daumen. Aber selbst wenn wir jemanden finden, mit dem wir uns sprachlich einwandfrei verständigen können, versteht man uns kaum. Ich vermute der Grund ist die kuriose Ambivalenz, dass wir einerseits offensichtlich genug Geld für einen Urlaub haben und nicht arbeiten müssen, andererseits aber mit einem Fahrrad unterwegs sind, das für viele Leute dieser Länder ein Sinnbild für den hierarchischen Bodensatz der Gesellschaft ist. Am besten versteht man die Wahl unseres Verkehrsmittels noch, wenn ich pantomimisch “Auto”, “Benzin”, “Hotel”, “teuer” und “Fahrrad”, “kein Benzin”, “Zelt”, “günstig” zeige. Das ist zwar nicht der Hauptgrund fürs Fahrrad, aber immerhin reduziert das die Tuschelei in der Menschentraube, wenn wir kurz zum Einkaufen anhalten.
Der Artikel heißt übrigens “lokales Maximum”, weil wir in Georgien den nördlichsten Breitengrad nach der Türkei erreicht haben. Das heißt: Es geht nur noch nach Süden und sollte stetig wärmer werden!
Traumhaft schöne Bilder! Weiterhin alles gute!
Ich bin auch unterwegs Valentin… aber jetzt doch Richtung Frankreich, anstatt Süden.
Kurzerhand spontan entschlossen und ich muss dir sagen, dass ich bis heute nicht weiß, wie du Blog, Fotos und die Zeit kombinierst, das alles zu veröffentlichen und dabei noch so viel zu radeln.
Ich mache mich an meine ersten Blogs und lasse dich später davon wissen.
Wieder einmal ein toller Einblick in eure Reisetage und das mit deinem Mantel tut mir leid, hoffe hat alles geklappt und du kannst wieder wie gewohnt weiter pedalen. (muss zugeben, hab diesen einen Blog jetzt gerade nur überflogen, schicke ihn aber weiter an Papa, weil der ja auf dem Straßenbau arbeitet und sicherlich viel Gefallen an der “kleinen Unebenheit” finden wird) – und ich lese das alles später…
Peace, Alexandros
Harhar! 180 km/h ausgerechnet im Lada-Land…
Die Unebenheiten des Straßenbelags kenne ich von indischen Bürgersteigen. Tagsüber geht das ja noch, aber ich hoffe, euch begegnet so was nicht als Ortsfremde im Dunkeln! In Indien ist der Bürgersteig übrigens gleichzeitig die Decke der Kanalisation! Echt(e) scheiße!
Cool, dass ihr nach so langer Zeit noch Reserven für 180-km-Touren habt! Hut ab! Aber so ein Ausblick auf den Kaukasus entschädigt natürlich.
Gute Reise weiterhin!
Hallo Valentin,
nicht nur deine Bilder lassen uns ein wenig mit euch reisen, sondern auch deine Gedanken und Erläuterungen sind nicht nur l esenswert sondern echte Prosa.Vielen Dank und weiterhin gute Fahrt
Axel und Franziska
Noch einen Gedanken zum lokalen Maximum: die Höhenmeter, die ihr im Elburs-Gebirge gewinnt, werden den Temperaturzugewinn eher wieder abschmelzen. Schweißteibend wird es wohl in jedem Fall
Die Kuh ist der Hammer!
Ich frag mich wie so ein Gespräch wohl aussieht, wenn Du einen anderen Fernradler triffst: “China? Ja, da bin ich auch schon mal hingeradelt, war ganz nett”
Alles Gute weiterhin, sehr beeindruckende Reise!
„Neger“ kennenlernte. Die waren sehr nett. Und sie erinnern sie sehr an mich. Abgesehen von der Hautfarbe. Ich weiß bis heute nicht, ob das ein Kompliment sein soll.
Hahahahahah Wahnsinn!
Viel Spaß noch!